Digitale Lehre aus dem Gotthelf Zentrum

Die „Berner Zeitung“ hat in ihrer Regionalbeilage freundlich über mein Projekt einer Vorlesungssequenz über Gotthelf aus dem Gotthelf Zentrum berichtet. In meinem Corona Blog habe ich die Hintergründe dargestellt:

Lockerungsübung

Gedanken eines Literaturwissenschaftlers in einer Übergangszeit mit ungewisser Richtung, 4. Teil

Am Freitag war es so weit. Am Freitag im Home Office riefen all jene an, die nun bald wieder arbeiten gehen wollen. Termine für die Kinder, Termine für einen selbst. Sogar die Krankenkasse rief an und fragte, wie es mir gehe in dieser Zeit. Gut, sagte ich, mir gehe es gut. Ob sie aus dem Home Office anrufe? Wie es ihr gehe? Ob sie zurecht kämen mit der Organisation der Arbeit? Dass es mir gut gehe, bestätigte ich nochmals. Warum sie eigentlich anriefe? Danke. Ja, es gehe mir gut.

Dazu noch etliche Mails, Skype-Nachrichten und Dropbox-Paper-Mitteilungen von wirklich netten Kolleginnen und Kollegen. Irgendwann war es dann mal genug. Wie soll man eine Vorlesung im Home Office vorbereiten, wenn alle wissen, dass man gerade zuhause gut erreichbar ist? Die Kollegin, die dann die rote Stoptaste erhielt, wird es mir nicht übel nehmen. Wenn man in Langzeitforschungsprojekten eigentlich immer am Rand von Belastungsgrenzen zusammenarbeitet, gut ‘eingespielt’ ist, dann gewinnt man eine gewisse Übung in solidarischer Toleranz, kann auch darauf vertrauen, dass die anderen diese Übung haben.

Vielleicht war es auch gar nicht zu viel, sondern einfach immer Dasselbe. Dieselbe Wand, derselbe Kaffeebecher, derselbe Zoom-Bildschirm als Kontaktersatz, derselbe Stuhl, der zuhause nicht ergonomisch ist, dieselbe ständig verschmierte Lesebrille. Man kann hundertmal die nackten Füsse auf dem Holzfussboden spüren, das Nachvibrieren der Fingerkuppen beim Tippen auf der irgendwie harten Tastatur oder als Grundübung den Atem, wie er kommt und wie er geht. All das hilft. Sehr. Aber eben nicht immer. „Ich bin nun mal kein Yogi“, so hiess ein Buch des DDR-Schriftstellers Joachim Walther, dass ich als Buchhandelsgehilfenlehrling auf Osterkundung kaufte und las. Hier passt eher nur der Titel, der mich schon damals anzog – vor allem, weil ich ihn nicht auf dem Buchcover eines Coming-of-age-Buches in einer DDR-Buchhandlung erwartet hätte. Es lohnt sich immer, enttäuscht zu werden.

Ein junger Mann aus Berlin will bei einer Hochwasserkatastrophe helfen, kommt zu spät und sitzt einer esoterisch angehauchten holländischen Bekanntschaft zuliebe herum: „Verdammt noch mal, ich halt das nicht mehr aus, dieses Rumsitzen, ich bin nun mal kein Yogi, ich muß was tun, muß Leute sehen, mit Leuten reden.“ (Das Buch, dass ich damals kaufte, hat mein Wanderleben nicht überlebt. Es muss wohl die fünfte Auflage von 1985 gewesen sein.)

Zu tun habe ich genug und hatte ich auch in der Selbstisolation. Gesehen und gesprochen habe ich sehr viele, aber nur digital. Hundespaziergänge gehen immer, helfen meistens, aber …

Vielleicht sind es auch die Selbstzweifel, diese chronische Befindlichkeit von mindestens der Hälfte aller Hochschuldozierenden, ob Lehrkonzepte aufgehen, die Studierenden etwas mitnehmen – und ob der Aufwand, den man mit der Lehre treibt, genügt, zu gross ist, sich eigentlich lohnt usf. Nun gewinnt man mit den Jahren gewiss Routine und auch eine dickere Haut, aber bei den nun notwendigen digitalen Lehrformaten hilft allenfalls letztere (also wenn sie schon recht hornhäutig ist), aber eben keine Routine.

Das ‘schwierigste’ aller denkbaren Lehrformate ist der 90-Minuten-Podcast von einer Dozentin oder einem Dozenten, der oder die nicht so grandios ist wie – sagen wir mal – Matto Kämpf. Obwohl, es reicht bei einer Doppellektion vielleicht auch nicht, Matto Kämpf zu sein. Man kann sich schlichtweg kaum eine intellektuelle ‘Rampensau’ vorstellen, die allwöchentlich 90 Minuten Podcast rocken könnte. Manche geschätzte Kolleginnen und Kollegen bringen es auf 30, 40, 45 Minuten intellektueller Hochspannung. Auch digital, habe ich auch schon angehört. Besonders eben bei Galavorträgen oder jedenfalls besonderen Tagungsauftritten, die dann im Internet verfügbar sind. Bei der wöchentlichen Vorlesung habe ich als Student ‘live’ manche intellektuelle Sternstunde erlebt, aber niemand bietet Woche für Woche eine Sternstunde seines Faches im 90-Minuten-Format, die auch im vor- und rückspulbaren Video ohne Realpräsenz überlebte. Darum geht es ja auch gar nicht. Es geht um anschauliche Vermittlung von Inhalten, am Beispiel gezeigte Zugangsweisen und Methoden (Handwerkszeug), Theorien – nicht um Selbstvermittlung. Aber.

Aber erstens möchte man das ja auch in so einer Situation auf eine Art und Weise machen, dass die Studierenden nicht nur qualvolle Stunden erleben, und zweitens ist es ziemlich langweilig, einen vorbereiteten Vorlesungsstoff irgendwie – und sei es auch so gut, wie es eben ungeübt geht – in die Webcam zu sprechen. Besonders langweilig ist es, wenn man dann doch einmal den Home Office Koller hat.

An diesem Freitag jedenfalls hilft nur noch eine halbwegs kreative Idee. In der Novellenvorlesung geht es um Jeremias Gotthelfs Hochkanonnovelle Die schwarze Spinne. Aus der einen Spinne werden viele schwarze Spinnlein, die Tod und Verderben über das Tal bringen. Ich widerstehe der Versuchung, die aberhundert aktualisierenden Lektüren des Textes um eine pandemische Spinnenplage zu erweitern. Dass sind so Reflexhandlungen in meinem Fach, die wie die Virusdeutungsmoden derzeit die Intellektuellen im routinierten Leerlaufprogramm zeigen.

An diesem Freitag hilft nur der Gang zu den Ursprüngen – und der Kontakt zu Heinrich Schütz, einem der rührenden Leiter des Gotthelf-Zentrums in Lützelflüh. Wie überall sonst sind auch in Lützelflüh im alten Pfarrhaus, Gotthelfs einstiger Wirkungsstätte, die Türen geschlossen. Am 1. April hätten Museum und Jahresausstellung geöffnet werden sollen. Nun hofft man auf den 9. Juni. Sobald klar ist, dass ich am Samstag das Zentrum für mich haben werde, dort die Vorlesung aufzeichnen kann, drehe ich alle digitalen Kommunikationsmedien auf besetzt und versuche meiner Gotthelfsequenz in der Vorlesung einen einigermassen medientauglichen Schliff zu geben.

Natürlich passiert alles, was so passieren kann: Für vier Vorlesungskapitel von insgesamt etwa 75 Minuten gibt es mit Raumwechseln, Versprecherkorrekturen und ähnlichem mehr dreieinhalb Stunden Drehzeit im und ums Zentrum. Ich sehe mich mit Armen schlackern, als wollte ich davonfliegen. Was mache ich in dieser Szene eigentlich mit meiner Hand? Bei der Begrüssung im Zentrum durch Heinrich Schütz hört man lautes Traktorgeräusch, und das eigentlich gute Mikrophon reagiert bei den Aussenaufnahmen mit Grundrauschen auf den leichten Wind. Bei den Aussenaufnahmen in der Laube sitze ich in einem Meer von Blütenstaub, dass man mich an der Teppichstange ausklopfen könnte. Die Mehrfachrolle von Skriptautor, Kamerafrau, Sprecher, Komparsin und Kaffeeboy ist anstrengend. In der letzten Filmsequenz sitze ich vor der integrierten Webcam wie ein zusammengesunkenes Häufchen Müdigkeit, so dass ich das Bild später beim Schneiden durch einen Museumsrundgang ersetze. Perfektion, das schrieb ich wohl schon, sieht anders aus. Nach so viel Home Office war diese Anstrengung ein gutes Ventil, und hoffentlich erreicht das Resultat auch die Studierenden. Das wäre schön.

Blütenstaub, das Gefühl in Gotthelfs Wirkungsstätte am Nachbau seines Arbeitstisches zu sitzen, allein im Museum, der Geruch, das laute Knarzen des Fussbodens. Am liebsten hätte ich Schuhe und Strümpfe ausgezogen …

Das Schneiden braucht dann einige Stunden; das Hochladen der vier Vorlesungskapitel währt eine gefühlte Ewigkeit, doch der Tag ist dann wie ein Geschenk, das nachwirkt – und sei es nur als Erinnerung an die Geräusche im leeren Museum und durch ganz beiläufige taktile Anwesenheit.

26.04.2020